Zehn Jahre sind verschollen, seitdem das Frankfurter Goethe-Museum einen Teil seiner Schätze der Obhut der französischen Nation anvertraute. In der Internationalen Städte- und Industrieaustellung zu Lyon erhob sich der mächtige Bau des "Deutschen Hauses", und der französische Kommissar hatte den schönen Gedanken, daß dieses Haus unter der Weihe des größten deutschen Geistes, Goethes, stehen müßte.
An das Frankfurter Goethe-Museum erging die dringende Bitte, diesen Gedanken in die Tat umzusetzen. Da eine große Anzahl deutscher Städte die Austellung beschickte und der französische Botschafter bei den Verhandlungen in Berlin die beruhigendsten Versicherungen gab, so nahm das Freie Deutsche Hochstift, der Begründer und Pfleger des Goethe-Museums, keinen Anstand, die Bitte des Lyoner Kommissars zu erfüllen. In der großen Halle des "Deutschen Hauses" wurde ein stattlicher Kunsttempel errichtet und mit Büsten und Bildern, Schrift- und Druckwerken usw. in künstlerischer Anordnung reich ausgestattet. Der Tempel trug als Inschrift ein Goethesches Wort, "Der ist nicht fremd, der teilzunehmen weiß", in französischer Übersetzung: Il n'est pas étranger celui qui sait compâtir. Und Goethe war kein Fremder. Er selbst hat stets gern anerkannt, was er der französischer Literatur danke und andererseits hatten die Besten der Franzosen längst einen Hauch des Goetheschen Geistes verspürt. Sie erkannten immer klarer, was Goethe nicht nur für die deutsche, sondern auch für die Menschheitskultur bedeutete. In keinem außerdeutschen Lande war Goethe so sehr zu Hause, wie gerade in Frankreich. Es schien, als sei gerade Goethe berufen, die beiden großen Kulturnationen durch gegenseitige Erkenntnis und wachsendes Verständnis allmählich einander näherzubringen.
Die Erhaltung des Friedens war natürlich dafür Grundbedingung. Aber wer dachte damals an Krieg! In Deutschland weder die Regierung noch das Volk. Aber auch in Frankreich war die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung der Erhaltung friedlicher Zustände geneigt.
Ein Zeichen der sinkenden Kultur der Neuzeit ist die Behandlung des Privateigentums in diesem Kriege. So wurde mit dem Ausstellungsgut der deutschen Städte auch der Goethepavillon und sein Inhalt von der französischen Regierung beschlagnahmt. Auf sofortige, durch die Schweiz vermittelte Anfragen erhielt die Direktion des Museums die Antwort, daß die Sachen auf eine besondere Art, nämlich durch Aufhissen der französischen Fahne auf dem "Deutschen Hause", vorläufig gesichert seien und später an einen sicheren Ort außerhalb der Stadt geschafft werden sollten.
Wenn es sich nur um die Sicherung des anvertrauten Gutes gehandelt hätte, so wäre ja nach Friedenschluß die Rückgabe selbstverständlich gewesen. Aber sie erfolgte nicht, die Beschlagnahme dauerte fort. Alle Bemühungen, ihre Aufhebung zu erlangen, blieben lange erfolglos.
Endlich wurde uns, auf eine direkte Eingabe an den Präsidenten der Republik, am 23. Juni 1921 die Mitteilung, daß das französische Gouvernement die Aufhebung verfügt habe "sous la seule réserve du paiement des frais de séquestration". War dieser einzige Vorfall, wenigstens nach deutschen Begriffen von internationalen Ehrenverpflichtungen, schon an sich ungerechtfertigt, so klang er wie Hohn in Anbetracht der Höhe der geforderten Aufbewahrungsentschädigung. Sie betrug die unerschwingliche Summe von 500 000 francs, die sich später auf 700 000 und 800 000 Francs erhöhte. Da alle weiteren Verhandlungen an dieser Forderung scheiterten, wandte ich mich am 16.09.1922 mit einem Artikel "Französischer Raub" an die Öffentlichkeit.Die europäische und amerikanische Presse widmete der Sache ihre Aufmerksamkeit, und die Goethe zuteil gewordene Behandlung fand allgemeine Verurteilung. Man stimmte der Auffassung bei, daß es Dinge gebe, die über den Streit der Völker erhaben seien und von ihm nicht berührt werden dürften. Auch führende französische Blätter erklärten die sofortige Auslieferung der Goethereliquien für eine Ehrenpflicht der Nation. Ein hervorragender französischer Journalist wandte sich persönlich an die zuständige Regierungsstelle. Aber er erhielt die überraschende Antwort, es handele sich um eine Repressalie gegen Deutschland, das die französischen Ausstellungsgüter von der 1914 zu Leipzig veranstalteten großen Buchgewerbeausstellung noch immer ihren Eigentümern enthalte. Diese Behauptung steht aber mit den Tatsachen in scheidendem Widerspruch. Das Eigentum der französischen Aussteller ist in Leipzig aufs sorgfältigste verwahrt und sofort nach Friedenschluß bedingungslos ausgehändigt worden. Der französische Kommissar, Herr Fighiéra, Direktor im Handelsministerium, hat damals seinen besonderen Danke für die sorgsame und humare Wahrung der französischen Interessen durch die deutschen Behörden Ausdruck gegeben.
Es ist überhaupt kein glücklicher Gedanke, daß deutsche und französische Verfahren in Humanitätsfragen einander gegenüberstellen, denn der Vergleich fällt im großen wie im kleinen stets zuungunsten Frankreichs aus. Als 1873 die deutschen Truppen die besetzten französischen Landesteile räumten, da übersandte Thiers, der Präsidenten der Republik, beim Feldmarschall v. Manteuffel seine Geschichte des Konsulats und des Kaiserreichs mit folgender Widmung: "A son Excellence le général de Manteuffel en souvenir de son humaine et généreuse administration des provinces occupées françaies - son dévoué Thiers." Die Generale Poincarés werden einst für ihre Schreckensherrschaft in den Rheinlanden wie im Ruhrgebiet auf solchen Dank keinen Anspruch machen können.
Auch an die Lyoner Ausstellung wird sich keine dankbare Erinnerung knüpfen. Um die "Aufbewahrungskosten" zu decken, brachte man im Oktober 1922 das deutsche Eigentum zur Versteigerung, nur die Goethereliquien sollten vorläufig vom Hammer des Auktionators verschont bleiben. Da aber die deutschen Städte nur zu wissenschaftlichen und nicht zu Geschäftszwecken ausgestellt hatten, so lockte ihr Material - Pläne, Modelle, Abbildungen, Serumpräparate usw. - keine Käufer an. Was nun?
Da schaffte endlich im September vorigen Jahres eine Feuerbrunst, die das Ausstellungsgut verzehrte, die Frage aus der Welt. Aber auch sie führte vorläufig nur zu einem Prozeß mit der Versicherungsgesellschaft. An die Goethereliquien selbst hatte das Feuer sich nicht herangewagt, nur der Holzbau des Pavillons und die Schaukasten sind mitverbrannt, aber der an anderer Stelle verwahrte Inhalt soll, den offiziellen Nachrichten nach, unberührt sein.
Wie wird es nun möglich sein, Goethe endlich aus seiner Gefangenschaft zu befreien? Zum Loskauf fehlen dem Museum die Mittel, und davon abgesehen, darf es diesen schmächlichen Weg in Rücksicht auf Goethes tiefes Gefühl für nationale Würde niemals einschlagen. Es ist die Pflicht der französischen Nation, dieses ihrer Ehre anvertraute, der ganzen Menschheit teuere Gut pietätsvoll zu verwahren und kostelnlos zurückzugeben.
Die Menschheitskultur bewegt sich nicht geradlinig, sondern in Kurven vorwärts. Dem heutigen Tiefstande werden wieder Höhepunkte folgen. Es wird auch in Paris einmal wieder eine Regierung geben, die sich ihrer Pflicht gegen den großen Genius erinnert. Und die öffentliche Meinung in und außerhalb Frankreichs wird ihr immer wieder diese Pflicht ins Gedächtnis rufen.
Version : 09.12.2004 - Contents : Marzina Bernez-Hesnard
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