DR. GUSTAV STRESEMANN MITGLIED DES REICHTAGS |
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Berlin, den 4. Oktober 1922 N W7, Neue Wilhelmstr. 12/14 |
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Sehr verehter Herr Professor !
Darf ich Ihre Aufmerksamkeit auf die
Angelegenheit der Goethe-Erinnerungen lenken, welche seitens des Frank- furter
Goethemuseums für die Städteausstellung in Lion im Jahre 1914 zur Verfügung gestellt
wurden. Ich habe damals selbst an den Verhandlungen teilgenommen, die der Beteiligung
Deutschlands an dieser Ausstellung vorangin- gen. Herr Bürgermeister Herriot hat sich in
Verhandlun- gen mit der Industrie ausserordentlich bemüht, die Betei- ligung der deutschen
Wirtschaft an dieser Ausstellung zu erreichen, und es hat sich, wie Sie wissen werden,
auch ein Komitee gebildet, das einen deutschen Pavillon errichtete. Wenn ich nun schon
vom Standpunkt der Frei- heit des Privateigentums es lebhaft bedauern muß, daß
diejenigen Firmen, welche sich damals an der Städteaus- stellung in Lion beteiligten, ein
Opfer ihrer optimisti- schen Auffassung in Bezug auf die Friedfertigkeit der |
S.H. Herrn Professor Esnard, Französische Botschaft, Berlin W
Matthäikirchstr. 3b. |
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Verhältnisse geworden sind, so gilt dies insbesondere für die völlig
unpolitische Vereinigung der Freunde des Goethehauses in Frankfurt am Main. In der
französischen Presse ist namentlich während des Krieges, aber auch später oft der Gegensatz
berührt worden zwischen dem Deutschland Goethes und Schillers und dem Deutsch-
land der Wilhelminischen Zeit. Ich kann diesen Gegensatz nicht anerkennen, denn Weimar
und Potsdam sind in meinen Augen nicht Gegensätze, sondern ergänzen sich einander.
Wenn aber dieser Gegensatz bestände, von dem Ihre Presse schreibt, wie können Sie
dieser Auffassung mehr ins Gesicht schlagen, als wenn jetzt
die französische Regierung diese Goethe-Andenken beschlagnahmen und versteigern lässt,
die die Verehrer des Geistes Goethes einst im Vertrauen darauf, dass das Genie
allen Völkern gehöre, Frankreich leihweise zur Verfügung stellten! Sie wissen, sehr
verehrter Herr Professor, daß die deutsche Regierung dieserhalb wiederholt vorstellig geworden
ist. Auch die öffentliche Meinung Frankreichs beschäftigt sich mit dieser Frage. Ich würde es
in dem Augenblick, wo man zum erstenmal seit dem Frieden etwas wie eine Entspannung zwischen
Frankreich und Deutschlang zu spüren glaubt, außerordentlich bedauern, wenn die Versteigerung der Goethe-Andenken Wahrheit würde, und bitte Sie, die
Wirkung, die hiervon auf die deutschen Intellektuellen
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ausgehen würde, nicht gering zu schätzen. Bismarck, den man wohl auch
in Ihren Kreisen als einen der größten Staatsmänner ansieht, hat einst davor gewarnt,
die unwägbaren Imponderabilien der Volksseele zu verletzen, Sie sind im Begriff, dies in der
schwer- sten Weise zu tun. Eine Tatsache, wie die Vergewaltigung dieser
Goethe-Reliquien würde im deutschen Geschichtsunterricht noch Jahre und Jahrhunderte
fortleben. Ich richte diese Worte nicht an Sie, dessen Interesse für die deutsche
Wissenschaft ich kenne, aber ich bitte Sie, die Güte zu haben, den Politikern in
Frankreich zu sagen, welche Wirkung die Aufrechterhaltung dieser Maßnahme haben müsste.
In aufrichtiger Hochschätzung Ihr Ihnen sehr ergebener |
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